Montag, 1. Dezember 2003
Blaulicht
Ob es das kurze, aber intensive Blitzlicht oder das irritierende Hupen war, wurde ihrem Bewusstsein nicht eindeutig klar, aber was es auch war, es drang zu ihr durch und verdrängte den gläsernen Ausdruck aus ihren Augen. In Sekundenbruchteilen wurde ihr klar, dass sie ein rote Ampel überfahren hatte. Es dauerte trotzdem einen Moment bis sie begriff, dass sie sich stadtauswärts bewegte und wie sie hier hergekommen war, konnte sie nicht nachvollziehen. Ihre Finger schlossen sich fester um das Lenkrad. Sie blinzelte heftig und Tränen lösten sich aus ihren Wimpern, glitten ihre Wangen hinab, hingen einen Moment an ihrer Kinnlade um dann unbemerkt an ihrem Hals zu versickern. Als der Radiosprecher das Nachtprogramm für Nachrichten und Wetterbericht unterbrach, hatte sie die Orientierung wiedererlangt. Sie setzte den Blinker und wechselte auf die Spur, die nach einigen Kilometern in eine wenig befahrene Landstrasse übergehen würde.

Mit der Klarheit stellte sich auch der Schmerz ein. In ihrem Kopf spulte sich wieder und wieder die Erinnerung an die Worte ab, die vor wenigen Stunden ihre Welt zusammenbrechen liessen. In ihrem Kopf raste ein aus Kontrolle geratenes Karussell mit schwindelerregender Geschwindigkeit, in ihrer Brust befand sich glühende Lava, in ihrem Bauch hielt eine geballte Faust ihre Organe im Klammergriff. „Nein!“, war der einzige Gedanke, den sie fassen konnte. „Nein, nein, nein!“, wimmerte sie lautlos vor sich hin, als könne sie mit diesen Worten, einer Beschwörung gleich, die Ereignisse der letzten Tage ungeschehen machen.

Die Lichter draussen vor der Windschutzscheibe wurden schwächer, der Verkehr um sie herum liess nach, die Häuser wurden dunkler. Sie liess die Stadt hinter sich, noch eine letzte Ampel, danach ein lichtloser Wohnblock, dann die Landstrasse. Sie kannte die Strecke in- und auswendig, kannte jede Biegung, jedes Schlagloch, jeden Baum. Und dann überkam sie Ruhe. Die Gedankenwirbel hielten abrupt an und machten Platz für einen neuen, einen verlockenden Gedanken. Sie richtete sich auf, starrte gebannt auf die Schemen der Bäume, welche die Strasse in ungleichmässigen Abständen säumten. „Es ist ganz einfach“, flüsterte sie, „ganz einfach.“ Mit dem Anflug eines Lächelns liess sie die verkrampften Schultern sinken. „Vorbei, vorbei, endlich alles vorbei. Kein Gestern, kein Heute, kein Morgen, vorbei!“, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie schaute auf das Armaturenbrett, überlegt kurz, trat das Gaspedal durch. Hinter der nächsten Biegung würde erst eine lange baumlose Strecke kommen und dann, ein kleines Stückchen abseits der Strasse, eine Linde, eine alte und wunderschöne Linde. Sie hatte die Linde vor Augen, sah ihr Grün vor sich, den Schatten, den der Baum im Sommer auf die Fahrbahn warf.

Als sie das Lenkrad leicht einschlug um der Biegung zu folgen, nahm eine fiebrige Erregung von ihr Besitz. „Nichts mehr denken, nichts mehr fühlen.“, murmelte sie und trat das Gaspedal noch ein wenig tiefer durch. Eine irrsinnige Freude überkam sie, ein unerträgliches Verlangen, ein Sehnen aus den tiefsten Tiefen ihres Innersten. Die Biegung ging in eine schnurgerade Strecke über, Gebüsch und Gestrüpp hinter sich lassend, und dann sah sie es. Erst ein schwacher blauer Schein in der Ferne, dann Autoscheinwerfer, ein Paar, zwei Paar, noch eines. Je mehr sie sich ihrem Ziel näherte, umso mehr Details nahm sie wahr. Ein Feuerwehrfahrzeug, ein Krankenwagen, ein Notarzt, Polizei, zwei Zivilfahrzeuge und über allem das irrsinnige Kreisen mehrerer Blaulichter. Mitten auf der Fahrbahn stand ein Polizist, winkte ihr zu, winkte sie in einem grossen Bogen um den Unfallort, an dem sich ein kleiner weisser Polo frontal in die Linde gebohrt hatte. Sie bremste ab, fuhr langsam, sehr langsam an Krankenwagen und Polizeifahrzeug vorbei, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Blechteile unter dem Baum und Tränen liefen ihr wie Sturzbäche übers Gesicht, während sie haltlos schluchzte.

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das leben überdenken
Ihm war, als schwebe er durch den Raum. Alles schien wie in Zeitlupe zu vergehen. Die zwei Kellner, die ihm entgegen kamen, bekamen davon natürlich nichts mit. Ihnen schenkte er einfach je zwei Zeigefingerzuckungen.
"Wer gibt mir das Recht, das zu tun?"
Seeker steuerte die Küche an. Das Geschrei der Gäste verhallte in seinem Kopf.
"Erlange ich durch meinen Beruf, durch meine Taten nicht einen unnatürlichen, unfair höheren Status meinen Mitmenschen gegenüber?"
Geradezu reflexartig schoss er den irritierten Sicherheitsmann in der Küchenecke nieder. Der Weg in den Keller müsste... ja, links runter sein.
"Ich existiere, mein Gegenüber nicht mehr. Wo geht es hin? Wandelt es sich in eine neue Existenz, oder verschmilzt es einfach mit dem Nichts? Es hat keinen Einfluss mehr auf das Geschehen dieser Welt.
Aber was rede ich da? Es. Immerhin spreche ich von einem lebendigen Menschen; ich darf ihn nicht zu einem Subjekt oder einem beliebigen Wesen herabstufen.
Leute werden um ihn trauern, sicher, aber sie werden ihr Leben weiterleben, ihn vergessen. Hat er dann überhaupt noch irgendeinen Einfluss? Ich meine, wie ist das? Man spürt einen Schmerz, dann wird alles schwarz - und dann nichts mehr? Für immer? Unvorstellbar!" Der hochstürmenden Wache trieb er mit einem beherzten Tritt - er hatte eine vorzügliche Ausbildung als Nahkämpfer genossen - das Nasenbein ins Gehirn. Blutend fiel der Wachmann den Weg zurück, den er gekommen war.
Seeker erreichte den Keller. Es war dunkel und nass. Spärlich beleuchteten einige amateurhaft angebrachte Lampen die düsteren Korridore. "Wie in einem gruseligen Horrorfilm.", dachte Seeker.


Er folgte dem langen Gang. Geschickt umging er kleine Wasserpfützen, abgelösten Putz und verrostete Nägel, um verräterische Geräusche zu vermeiden.
Um die Ecke stand ein weiterer, korrekt in einen Anzug gekleideter Mann - mit dem Rücken zu Seeker. Gemütlich rauchte er eine Zigarette - Camel, wenn Seeker richtig roch - und hatte vom bisherigen Ärger nichts mitbekommen. Er schien in Gedanken vertieft zu sein - sofern Seeker seine schlaffe Körperhaltung richtig deutete.
"Dieser hier zum Beispiel. Vielleicht hat er eine Familie. Frau, Kinder, Eltern. Wie viel Schmerz setze ich in die Welt, töte ich ihn? Ich meine, ich zerstöre mit einem Mord gleich das Leben ganzer Familien. Ich bin ein Unmensch!" Er schoss ihm in den Hinterkopf. Ohne ein Ton von sich zu geben, nur von dem lauten Pistolenknall begleitet, fiel er vornüber in eine kleine Wasserpfütze. Das letzte Geräusch dieser namenlosen Wache auf Erden war ein Wasserplatschen.


Seeker war kurz vor der Tür, die ihm sein Auftraggeber flüchtig beschrieben hatte.
"Solide Eichenkonstruktion, mit Metallstreben verstärkt. Hebt sich von den anderen Türen da unten ab. Dort halten sie immer ihre Sitzungen. Suchen sie ihren Kunden zu aller erst da." Die Stimme des bärtigen, in einen langen Regenmantel gekleideten Auftraggebers klang noch deutlich in Seekers Ohren.


Aufgebrachte Stimmen waren aus dem Raum zu hören. Seekers letzter Schuss hatte das Personal endlich gewarnt. "Trotz aller Tiefsinnigkeit, einen Schalldämpfer hätte ich Idiot trotzdem mitnehmen können!", war Seekers erster und letzter Gedanke, der sich direkt auf den Auftrag bezog.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Ein aufgebrachter Wächter feuerte mit einer Maschinenpistole auf Seeker. Er verfehlte.
"Diese Kugeln galten mir, verdammt! Hätten sie getroffen, ginge es mir jetzt nicht besser als den anderen, die ich bisher erledigt habe. Ich, Scheiße, ich - ich wäre jetzt tot!", schoss es ihm durch den Kopf und er seinem Gegner ins Gesicht.
Irgendwie hatte er sich das nie bewusst gemacht. Sicher, sein Verstand wusste, welches Risiko ein jeder Auftrag barg. Aber mit dem Herzen, mit dem Geiste, hatte er diese Gefahr immer verdrängt. Sterben? Ich?
Seeker begann ernsthaft, alles in Frage zu stellen, wofür er je gelebt hatte.

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