Mittwoch, 3. Dezember 2003
Keine Nase, eine Nase
Der neue Morgen begann ziemlich übel für Homer. Als er in den kleinen, runden Badezimmerspiegel blickte, stellte er überraschend fest, dass seine Nase verschwunden war. Sie war weg, einfach weg. Ein lauter, keuchender Schrei des Entsetzens entfuhr ihm, als er erkannte, dass da etwas überhaupt nicht in Ordnung war. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Heftig rieb er sich die Augen, in der Hoffnung, dass er noch nicht ganz wach war. Dann kniff er sich ziemlich stark in den Handrücken, um aus diesem furchtbaren Alptraum aufzuwachen, doch außer einem kleinen stechenden Schmerz an der Hand stellte sich keine Änderung ein. Die Nase wollte nicht wieder auftauchen. Dort, wo sie vorher gewesen war, schien es jetzt eine geschlossene, glatte, mit Haut überzogene Fläche zu geben, auf der einige spärliche Haare wuchsen. Um wirklich ganz sicher zu gehen, setzte Homer seine Brille auf. Vielleicht spielte ihm ja nur seine leichte Kurzsichtigkeit einen kleinen optischen Streich. Die Brille rutschte sofort nach unten und hing nun wie eine Art Bart am Kinn. Es sah sehr albern aus. Noch einmal tastete Homer vergeblich nach der Stelle, wo sich gestern noch ein relativ respektabler Riechzinken befunden hatte, und hielt dann inne. Irgendwo in seinen Gehirnwindungen wurde der Befehl ausgelöst, bloß nicht in Panik zu geraten und die Situation stattdessen ruhig und rational anzugehen. Jetzt waren eindeutig Vernunft und Selbstbeherrschung gefragt. Wenn man das Problem ganz sachlich und gelassen betrachtete...
Nein, keine Chance! Nicht wenn einem plötzlich aus heiterem Himmel die Nase abhanden kam.
„Loooooona!“ kreischte Homer drauflos, stürmte wie von der Tarantel gestochen zurück ins Schlafzimmer und sprang zum Bett, in dem seine Freundin noch immer friedlich schlummerte.
Loona war hübsch anzusehen, vor allem wenn sie im Schlaf die Decke beiseite gestrampelt hatte und dadurch eine Menge nackter Haut entblößte, doch nach solchen Dingen stand Homer gerade nicht der Sinn. Reichlich unsanft versuchte er, die junge Frau wachzurütteln.

Der Traum war wirklich schön und Loona genoss ihn in vollen Zügen. Sie wusste, dass es ein Traum war, aber das machte nichts. Im Gegenteil, die Grenzen der Realität hinter sich zu lassen war einfach wundervoll. Nichts, was man tat, hatte wirklich Konsequenzen, alles war erlaubt, alles war möglich.
Eben waren sie an den Sternen vorbei durch die Nacht geflogen, Hand in Hand, genau wie einst Superman und Louis Lane. Dabei war Homer gar nicht immer Homer gewesen, aber das empfand Loona nicht unbedingt als besonders schlimm. Was machte es schon, wenn ihr Freund zwischendurch auch mal wie Brad Pitt oder Pierce Brosnan aussah? Na gut, einmal hatte er sich in ihren Ex verwandelt, das gab ihr schon etwas zu denken, aber eigentlich nicht sehr, denn schließlich war es ja nur ein Traum.
Irgendwie befanden sie sich jetzt in einem Swimming Pool, ohne dass es eine plausible Erklärung dafür gab, wie sie dorthin gekommen waren. Homer, bekleidet nur mit einer sehr knappen Badehose und schon wieder um einiges muskulöser als in der Realität, saß am Beckenrand und ließ seine Beine ins Wasser baumeln. Loona schwamm auf ihn zu und schnappte sich vorwitzig seine Füße.
„Komm zu mir ins Wasser, Liebling“, rief sie fröhlich und verlieh ihrer Aufforderung Nachdruck, indem sie einmal kräftig zog. Da konnte Homer einfach gar nicht anders, als ihrem Wunsch mit einem lauten Platsch nachzukommen. Und während er noch versuchte, mit rudernden Armen wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen, fiel Loona auch schon über ihn her.
„Ich bin ein gefährlicher Piranha, und nun werde ich dich verspeisen!“
Leidenschaftlich aber doch noch relativ zärtlich, wie sie fand, knabberte sie an Homer herum, doch der war offenbar empfindlicher, als sie gedacht hatte.
„Oh Gott, Loona, meine Nase“, schrie er plötzlich los, „sieh nur, was mit meiner Nase passiert ist!“

Es dauerte einen Moment, bis Loona erkannte, dass Homers Geschrei der Realität entstammte und nichts mit ihrem Traum zu tun hatte. Als sie die Augen aufschlug und direkt in Homers nasenloses Gesicht schaute, war daher ihr erster Gedanke:
Oh nein, was habe ich nur getan. So fest habe ich doch nun wirklich nicht zugebissen.
Dann jedoch wurde ihr bewusst, dass keinerlei Zusammenhang zwischen dem Geträumten und Homers neuem, sehr merkwürdigem Aussehen bestehen konnte. Selbst in ihrem noch schlaftrunkenen Zustand bekam sie mit, dass es sich hier nicht um eine frische, offene Bisswunde handelte.
Sonst hätte ja auch überall Blut sein müssen, dachte sie.
Aber was ist dann mit ihm passiert?
Langsam wurde sie wacher und ihr Verstand kam allmählich auf Touren.
Wie kann denn eine Nase auf diese Weise verschwinden?
Zwar fand sie auf diese Frage keine Antwort, doch wurde ihr klar, dass hier eine ungeheuerliche Groteske im Anmarsch war. Und plötzlich war er da, der Lachreiz. Loona schaute in Homers Gesicht, wo die Brille immer noch an seinem Kinn hing. Oh Mann, das sah aber auch aus! Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Homer nicht nur kurzsichtig war und keine Kontaktlinsen vertrug, sondern auch noch als Handelsvertreter eines Pharmakonzerns arbeitete, der als Hauptprodukt ein als besonders wirksam aber dennoch sehr verträglich geltendes Nasenspray vertrieb. Sie malte sich die Szene von Homers nächstem Verkaufsgespräch aus, und ihre Mundwinkel begannen unwillkürlich zu zucken.
Nebenwirkungen? Wie kommen Sie darauf, dass Nas-O-Frei Nebenwirkungen haben könnte?
Das war einfach zuviel! Sie wusste, dass es weder angebracht noch besonders nett war, weder sensibel noch mitfühlend, aber sie konnte nicht an sich halten. Unmöglich. Loona prustete los. Für einen kurzen Augenblick versuchte sie noch sich zurückzuhalten, aber es ging nicht. Ein lautes, schallendes Lachen entfuhr ihr und traf Homer mitten ins Herz. Als sie seinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, rollte sie sich auf dem Bett herum und vergrub ihren Kopf im Kissen. Vielleicht war das für ihn nicht ganz so schlimm, hoffte sie, denn es bestand nicht der Hauch einer Chance, dass sie in nächster Zeit mit dem Lachen aufhören würde.
Was gibt es heute zum Essen? Nasi Goreng! Aber ohne Knoblauch, den kannst du ja nicht riechen. Oh nein, ich bin ja so etwas von gemein. Du hast ein Problem Homer, denn von nun an werden dir alle anderen immer eine Nasenlänge voraus sein. Bitte nicht mehr, das ist zu fies. Nun sei doch nicht so naseweis und hör endlich auf, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen. Schluss jetzt, ich kann nicht mehr. Sieh es positiv Homer, wenigstens kannst du jetzt nicht mehr ständig auf die Nase fallen.
Loona schlug vor Lachen mit den Fäusten auf das Bett und strampelte wild mit Beinen. Sie drehte sich wieder auf den Rücken und Tränen schossen ihr in die Augen, als ihr Blick erneut auf den völlig entgeisterten Homer fiel. Sie musste sich jetzt den Bauch halten, sonst wären die Lachkrämpfe nicht mehr zu ertragen gewesen.
„Bitte Homer“, gluckste sie, „geh nach draußen und warte, bis ich mich eingekriegt habe.“
Dann wurde sie von einem weiteren Anfall geschüttelt und Homer verließ ziemlich eingeschnappt das Zimmer.

In den nächsten Tagen und Wochen erlebte Homer wohl die aufregendste Zeit seines ansonsten eher langweiligen Lebens. Er erlangte als der Nasenlose eine nicht geringe Berühmtheit, die Geschichte seines Schicksals ging durch alle Medien. Er wurde in eine Talkshow nach der anderen eingeladen, Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen und aus aller Herren Länder fragten an, ob sie ihn untersuchen durften. Eine große Vielfalt sehr unterschiedlicher Theorien über das Verschwinden von Homers Nase wurde diskutiert, aber keine davon mutete wirklich besonders befriedigend an. Von einer spontanen Rückbildung durch noch zu klärende mutagene Einflüsse über psychokinetische, durch das Unterbewusstsein ausgelöste und gesteuerte Metamorphosen bis zur göttlichen Strafe war alles dabei. Einmal wurde sogar behauptet, Homer sei ein raffinierter Schwindler, der sich seine Nase absichtlich hatte amputieren lassen, nur um in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen, aber mit einem sehr ausführlichen medizinischen Gutachten konnte dieser Verdacht vor Gericht erfolgreich abgeschmettert und in eine recht lukrative Verleumdungsklage umgewandelt werden. Seinen Job als Handelsvertreter für Medikamente war Larry verständlicherweise los, doch durfte er in einigen Werbespots für Nas-O-Frei mitspielen, ganz nach dem Motto: Das könnte Ihnen passieren, wenn Sie ein herkömmliches Produkt verwenden.
Irgendwann jedoch wurde Homer das alles zu bunt. Er konnte den Rummel um seine Person nicht länger ertragen, und so ließ er sich ein kostspieliges, künstliches Nasenimplantat anfertigen, das durch den Einsatz neuester Entwicklungen aus der synthetischen Rezeptorforschung sogar die teilweise Wiederherstellung seines Geruchssinns ermöglichte. Über diese Operation wurde noch eine zweiteilige TV-Dokumentation gedreht, doch es dauerte nun nicht mehr lange, da gerieten Homer und seine verschwundene Nase wieder in Vergessenheit. Ab und an meldete sich noch der eine oder andere Metaphysiker bei ihm, aber damit hatte es sich dann auch.

Loona trennte sich sehr bald von Homer. Sie hatte ihn schon immer ein wenig für einen Looser gehalten, der dieses Manko jedoch durch erstaunlich gute Leistungen im Bett wieder wett gemacht hatte. Doch nun war er auch noch ein echter Freak geworden, dessen zukünftiges Innenleben mit Sicherheit zum kompliziertesten gehörte, das sie sich vorstellen konnte. Halbwegs normal konnte eine Beziehung mit Homer ihrer Meinung nach von jetzt an wohl kaum noch verlaufen, und auf all die zu erwartenden Psychoprobleme hatte sie einfach keine Lust. Sie heiratete später den Chirurgen, der Homers neue Nase angesetzt hatte.

Sehr viel später, in ferner Zukunft, aber bei einer Koordinate im Raum-Zeit-Kontinuum, die erstaunlich parallel zu jenem Punkt lag, an dem Homers Nase verschwunden war, verließ LS-1721 den Diagnosebereich seiner Medi-Kugel. Trotz einer Analyse, die länger als drei Stunden gedauert hatte, wusste er noch immer nicht, wie es zu diesem Schicksalsschlag gekommen war, geschweige denn, wie er damit umgehen sollte. Es gab keine logische Erklärung dafür, wieso dieses scheußliche Etwas, das nur aus alten Mythen und Sagen bekannt war, jetzt plötzlich mitten in seinem Gesicht prangte. Das widerliche Empfinden, das er dadurch wahrnahm, musste das sein, was die Altertumsforscher Gestank nannten. Kein Wunder, dass sich dieses Körper und Geist quälende Ding, das zudem auch noch abgrundtief hässlich aussah, im Laufe der Evolution zurückgebildet hatte. Verdammt, wo kam bloß diese Nase her?

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Am Fluss
Ich kann nicht einschlafen, obwohl es draussen, vor dem Zelt, inzwischen still geworden ist. Neben mir liegt André, er schläft. Nur sein dunkler Haarschopf schaut zwischen Kissen und Decken heraus, abgesehen von unregelmässigen Schnarchlauten sind seine Atemzüge tief und gleichmässig. Ich seufze und winde mich aus meinem Schlafsack.

Ich bleibe einen Moment zwischen den Zelten stehen und lausche. Aus fast jedem Zelt dringen Schlafgeräusche, jemand nuschelt unverständlich vor sich her, jemand anderes hustet, dazwischen lautes und leises Schnarchen und Grunzen. Martin, das Geburtstagskind, war als erster verschwunden, kein Wunder, immerhin wollte er mit jedem einzelnen anstossen. Ich grinse vor mich hin und schlendere über die Wiese hinab zum Flussufer. Die Feuerstelle glimmt noch schwach. Ich sammle ein paar Zweige auf und stochere in der Glut, lege Holzscheite nach. Helle Flammen züngeln empor, werfen ihr Licht in die Nacht. Nah am Flussufer hockt eine in eine Decke eingewickelte Gestalt. Als ich auf sie zugehe dreht sie sich um. „Kannst auch nicht schlafen, hmm?“, stellt Felix grimassenschneidend fest. „Nein, absolut nicht.“, sage ich und setze mich neben ihn. Wir schauen auf das träge Wasser hinab, welches, bis auf ein paar klitzekleine Lichtreflexe unter dem blassen Mondlicht, unsichtbar dahinfliesst.

Nebelschwaden treiben vom anderen Flussufer herüber, ich fröstele. Felix hebt einladend seine Decke. „Komm näher, reicht für uns beide.“, sagt er. Ich rutsche dicht an ihn heran, schmiege mich an ihn und er schlingt die wohlig warme Decke um uns beide. „Besser?“
„Viel besser.“, sage ich.
Wir sitzen einfach da, schweigend. Unter der Decke ist es angenehm warm. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter und seufze. „Was ist? Müde?“, fragt Felix leise. „Nein, kein bisschen, es ist nur gerade so schön friedlich hier.“, antworte ich. „Ja, das ist es.“, sagt er. Sein Arm schliesst sich fester um meine Schulter, er dreht den Kopf, der schwache Lichtschein des Feuers spiegelt sich in seinen Augen. Unsere Lippen berühren sich, seine Zunge kitzelt meine Mundwinkel. Ich öffne leicht den Mund und geniesse das Kribbeln im Bauch, als seine Zunge meine berührt. Erst sachte, dann werden seine Liebkosungen in meiner Mundhöhle immer forscher. Mit einer Hand zieht er mich am Nacken näher an sich heran, mit der anderen streichelt er über meiner Jacke meine Brüste. Ich will nicht nachdenken, konzentriere mich nur auf dieses wahnsinnige Kribbeln in meinen Brustwarzen und meinem Schoss. Und ich will mehr, mehr, mehr. Ich streife unter der Decke meine Jacke ab, knöpfe mein Hemd auf. Er öffnet meinen Büstenhalter, sein Kopf verschwindet unter der Decke, seine Lippen wandern über meine Brüste. Ich keuche, winde mich, lasse mich rückwärts ins Gras sinken. Mit zittrigen Händen schäle ich mich aus Jeans und Slip, helfe seinen ebenfalls zittrigen Händen dabei, seine Hosen abzustreifen. Er gleitet zwischen meine Schenkel. „Bist du sicher?“, vergewissert er sich und dringt erst in mich ein, als ich bejahe. Wir ziehen die Decke über uns, schliessen den Nachthimmel und das flackernde Feuer aus. Wir bewegen uns langsam und vorsichtig bis wir einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben, keuchend, seufzend, es gibt kein zurück, jetzt nicht mehr. Wir steigern das Tempo unseres Rausches bis das süsse Pochen der Erlösung unsere Körper durchflutet.
„Ich hoffe, ich kann dir morgen noch ins Gesicht sehen.“, sagt er zum Abschied, als ich zurück in mein Zelt krieche. „Das hoffe ich auch.“, sage ich.

Als die Zelte abgebaut und verstaut sind und alle in ihren Autos sitzen um nach Hause zu fahren, wo Kaffee, Dusche und Fernseher warten, schauen wir uns einen Moment lang in die Augen, er zwinkert und ich lächle leise.

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