Donnerstag, 27. November 2003
Wolfsbande
Die Dämmerung bricht herein, übertüncht das frische Grün der Bäume mit Grauschattierungen, bedeckt den Himmel mit orangen Schleiern zwischen dunklen Wolkenklumpen und verjagt die Tageswärme. Ich schlage mein Nachtlager zwischen Fichten und Farnen auf. Als ich den Rucksack hinab gleiten lasse, fühle ich mich für einen Moment vollkommen schwerelos und taumele ein paar Schritte zurück. Ein langer Marsch liegt hinter mir, eine lange und kalte Nacht vor mir. Ich lasse mich auf die Knie fallen, öffne meinen Rucksack, zerre die schmuddelige Decke hervor und dann überfällt mich vollkommen unangekündigt die Gewissheit. Ich springe auf, starre in die Dunkelheit zwischen den Bäumen und lausche angestrengt. Nichts, rein gar nichts, nicht zu sehen, nichts zu hören. Trotzdem weiss ich es, ich weiss es ganz einfach, sie sind wieder da. Die Wölfe sind wieder da.

Drei Tage lang war ich mich sicher, dass sie die Verfolgung aufgegeben haben, drei Tage lang war ich frei von dem Brennen hinter meinen Augen, frei von dem Kribbeln auf meiner Haut, von dem Gefühl, in einem unsichtbaren Netz gefangen zu sein. Aber mit der Erkenntnis, dass sie wieder da sind, vielleicht niemals fort waren, überfällt mich erneut eine alles verschlingende Panik. Ich kann sie fühlen, sehe die Konturen ihrer unsichtbaren Leiber vor mir, rieche sie sogar. Ich atme so schnell, dass mir schwindelig wird und ich für einen Moment die Augen schliessen muss. Als ich sie aufreisse, stehen sie vor mir. Und hinter mir. Im Zwielicht wirkt ihr Fell schwarz, aber ich weiss, dass sie grau sind, grau in allen Schattierungen. Ich suche nach einem Fluchtweg, aber es ist aussichtslos, sie umringen mich, schliessen den Kreis um mich in lautloser Eifrigkeit. Ich drehe und wende mich, Elektrizität statt Blut in den Adern. Immer schneller drehe ich mich, starre in ihre gelben Augen. Ich stürze, ich stürze während ich von ihnen umringt bin. Visionen von reissenden Fangzähnen, von unsagbaren Qualen, Blut und Tod überschatten jedes klare Denken. Ende, das ist das Ende.

Sie sind überall, auf mir, neben mir. Ihre struppigen Leiber drängen sich gierig an mich. Speichel tropft von ihren Lefzen auf meine Hände, mein Gesicht. Die Hitze ihrer Körper durchdringt meine Kleidung, verbrennt die feinen Härchen auf meiner Haut. Die Panik in mir schlägt in tiefe Ruhe um. Ich schliesse meine Augen und warte auf den Schmerz. Nichts. Nichts geschieht. Keine Zähne, keine Schmerzen, kein Blut. Stille um mich herum, Frieden in mir drin. Ich versuche zu sprechen, Fragen zu stellen, aber aus meiner Kehle kommt nur ein leises Winseln.

Ich begreife endlich: Ich bin eine von ihnen.

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