Sonntag, 7. Dezember 2003
einsam und allein
Niemand sagte ihm, was er wissen wollte. Er wollte wissen, wie lange er noch warten sollte, wie lange er noch auf diesem Stuhl, der nur aussah wie ein Stuhl, sitzen müßte, und der Person, die nur ein Schatten seiner Erinnerung war, zuhören, ihren Worten, die sich schon seit geraumer Zeit in undifferenzierbare Silben aufgelöst hatten, um nicht mehr verstanden zu werden, vielleicht sogar von Anfang an mit dieser Absicht die Gedanken verlassen haben, um zu einer dahintaktenden Inhaltslosigkeit zu werden. Er hörte auf den Rhythmus, obwohl er andere Dinge als hämmernde Monotonie bevorzugte, obwohl er andere Situationen, als die des Wartens bevorzugte. Aber es ging scheinbar nicht um Dinge und Situationen, die man anderen Dingen und anderen Situationen vorzog. Es ging scheinbar um nichts.

Er hatte Schwierigkeiten, sich damit anzufreunden, Schwierigkeiten, nach dem Grund zu suchen, warum es bei allem worüber er nachdachte, keinen Punkt gab, wohin alles streben konnte, kein absehbares Ende, keine Finalität, die es möglich machte, von neuem anzufangen, einen neuen Blick zu öffnen, eine neue Sprache zu finden, die keiner Worte bedurfte, weil sie sich vom Zwielicht der Bedeutungen befreit hätte, vollständig befreit von schwammigen Definitionen, die letzten Endes alles wieder in den Grundton der Verständnislosigkeit münden ließen, weil sie alles sein konnten und damit auch nichts, ein summendes Nichts, das einen dann wundern ließ, warum man überhaupt zu reden begonnen hatte, warum man die Stille zerstört, und die Sinne aufgerieben hatte.

Er fragte und es gab keine Antwort. Es war nun zu viel Zeit vergangen, um eine Antwort erwarten zu können, zu viel Zeit, um jemandem begegnen zu können, der wüßte, wie man das Fragezeichen in einen Punkt verwandeln könnte, und es endlich eine Möglichkeit geben würde, sich zu erheben, eine wirkliche Möglichkeit und nicht nur eine, die man endlos in Gedanken durchspielte, bis man an sie glauben konnte und sich damit abfand, ein ewig Wartender zu sein.
Er beschloß aufzustehen, obwohl er nicht sicher sein konnte, daß er im nächsten Augenblick nicht wieder in sich zusammenfallen würde wie ein dünnes Blatt Papier. Es konnte sein, daß er keine Kraft hatte. Es konnte sein, daß er sich an nichts in seiner Umgebung abstützen könnte. An nichts und niemanden. Aber vielleicht war das ein notwendiger Schritt, den man gehen mußte, um zu spüren, daß gehen Kraft kostet, weil man die Schwere des eigenen Körpers überwinden muß, um stehen zu können, um gehen zu können, unabhängig davon, ob man einen unnachgiebig harten oder einen nachgiebig weichen Untergrund beging. Schritte versinken. Spuren verschwinden.
Er sah aus dem Fenster. Es schien...als ob es in Strömen regnete.

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Freitag, 5. Dezember 2003
Blind date
Das Klicken ihrer Absätze auf dem geteerten Weg im Stadtpark hörte sich in der Stille ringsherum sehr laut an. Es war kurz vor Mitternacht, nur wenige andere Besucher schlenderten jetzt noch durch die Grünanlage. Die meisten waren paarweise unterwegs, Arm in Arm, eng umschlungen. Immer wenn eine Einzelperson vor ihr aus der Dunkelheit auftauchte, klopfte ihr Herz schneller und eine unerträgliche Erregung bemächtigte sich ihrer, die schlagartig von ihr abfiel, sobald sie erkannte, dass es sich um eine Frau handelte, die, genau wie sie selbst, alleine ihre Kreise um Rasenstücke und Blumenbeete zog. Sichtete sie jedoch eindeutig eine männliche Person, wurde ihr Gang wiegend, ihre Zunge feuchtete ihre Lippen an, sie warf das Haar zurück und streckte herausfordernd ihre Brüste vor.

Sie hatte den Park fast zur Gänze durchschritten und Enttäuschung wollte sich gerade in ihr breit machen, als sie ihn entdeckte. Er sass unter einem Baum auf einer Bank, allein. Er schaute kurz in ihre Richtung, drehte dann desinteressiert den Kopf in eine andere Richtung. Sie näherte sich ihm langsam, musterte ihn eingehend. „Bingo!“, dachte sie und liess sich neben ihm auf der Bank nieder. Sie schlug die Beine übereinander und zupfte verstohlen den Rock ein Stück höher als es nötig gewesen wäre. Er starrte stur geradeaus, so, als wäre sie gar nicht da. Sie seufzte laut, lehnte sich zurück. Nichts, keine Reaktion, er machte keine Anstalten, sie in irgendeiner Weise zu registrieren. Sie zog eine Zigarettenschachtel aus der winzigen Handtasche und rückte ein Stück näher an ihn heran. „Haben sie vielleicht Feuer?“, fragte sie ihn und legte grösstmögliche Unschuld in ihren Blick. „Wie? Ach so. Ja, einen Moment.“, antwortete er, kramte in seiner Hosentasche und zückte eine Streichholzschachtel. Kurz bevor ihre Zigarette Feuer fangen konnte, pustete sie sachte und die Flamme des Streichholzes erlosch. Endlich schaute er ihr in die Augen, fragend und leicht irritiert. „Könnten Sie bitte nochmal?“, bat sie ihn mit gekonntem Augenaufschlag. „Natürlich.“, murmelte er und riss das nächste Streichholz an, welches sie umgehend erneut auspustete. „Oh, schon wieder.“, sagte sie. Stumm entzündete er das nächste Hölzchen, stumm pustete sie sachte. Die kleine Flamme flackerte und erlosch. „Was soll das? Wollen sie nun Feuer oder nicht?“, fragte er. „Als ich sie um Feuer bat, dachte ich nicht an eine Flamme.“, antwortete sie, warf die Zigarette ins Gras, ihre Finger knöpften ihre Bluse auf, darunter nichts als nackte Haut. Sie rückte näher an ihn heran, berührte sachte seinen Arm. Sein Blick ruhte auf ihren Brüsten. Er schluckte so hart, dass sie es deutlich hören konnte. „Ich glaube, ich habe verstanden.“, flüsterte er heiser. „Nun, bekomme ich nun Feuer oder muss ich jemanden anderes fragen?“, säuselte sie. Sie hob den Rock an, spreizte die Beine. „Äääääähm.“, machte er, als sein Blick ihren blanken Schamhügel traf. Sie nahm seine Hand, führte sie zu ihren Brüsten und hielt sie dort fest. „Interesse?“, wollte sie wissen „Langsam steigt es.“, sagte er und führte wiederum ihre Hand in seinen Schritt, wo sich seine Jeans bereits spannten. Sie öffnete den Reissverschluss, tastete mit den Fingern unter dem Bund seines Slips, umschloss fest, was sie dort vorfand. Er stöhnte auf, sein Becken zuckte. „Ich wohne nicht weit von hier, ein paar Schritte nur. Kommst du mit?“, fragte sie, während ihre Finger drückten und kneteten. „Worauf warten wir noch?“, presste er mühsam hervor.

Später, es dämmerte bereits und sie lagen erschöpft auf dem Fussboden in ihrer Wohnung, lachte sie leise auf und sagte: „Nächstes Mal verführst du mich. Ich habe für dich schon zweimal hintereinander die Schlampe gespielt, es wird Zeit für neue Spielregeln.“

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Donnerstag, 4. Dezember 2003
Das klagende Korn
Das Dorf lag schwer unter den Ausdünstungen des Tages und das unstet werdende Licht begann mit der kalten Luft zu spielen. Windwolken trugen eine ferne Musik durch die Birken. Auf einem Streichspalter und einer Drehleier wurde eine schwere Melodie gespielt, die in jeden Winkel des Dorfes drang und die Leute aufhorchen ließ. Es war eine Musik, die weit und klar klang. Sie brachte die Dörfler von ihrer so nötigen Arbeit ab. Selbst der Werker, der gerade ein Holz schnitt und sich in sicherer Erwartung der nützlichen Form befand, hielt inne und wog seinen Kopf, als wollte er dem drohenden Rythmus seine Nase zeigen. Er legte sein Werkzeug nieder und richtete sich auf. In seinen Augen lag eine flackernde Entschlossenheit. Er war ein wichtiger Mann im Dorf und mußte nach dem Rechten sehen.

Gerade wollte er gehen, da sah er den Kuhbauern kommen. Der Kuhbauer besaß die einzigen Kühe des Dorfes. Er zog eine Gruppe gestikulierender Männer hinter sich her, als wollte er das Dorf auf ein Charivari einstimmen. Nun kamen die Frauen aus ihren Lehmhütten oder Holzhäusern, verließen widerwillig ihre Werkstätten des Brotes und der kargen Stoffe und hielten, besorgt oder neugierig um sich schauend, ihre schweren grauen Schürzen in den Händen. Wie selbstverständlich versammelten sich alle um die noch gar nicht so alte Dorflinde, und sie warteten auf das Näherkommen der schwermütigen Melodie, als ob sie jedes Wort für überflüssig hielten.

Da drang ein alter Mann zur Mitte, gebückt und knorrig. Das war der Schwiegervater des Kuhbauern, der schon lange allein am Dorfrand in einer zugigen Hütte lebte und meistens im Garten bei seinen Kräutern war, die nur selten jemand haben wollte.

Wir müssen weg von hier, sagte er mit dünner Stimme und wies auf die Birken an den Rändern des Dorfes, die sich unter der Musik zu neigen schienen.

Lasst uns gleich ziehen, denn im Fernen muß ein besserer Ort liegen, der für uns bestimmt ist. Hört doch, was die Musik sagt! Der Tod! Er ist nicht weit von uns.

Einige lachten.

Er hat recht, schrie ein Knecht in den hinteren Reihen. Er wurde von einer Magd geschubst und gekniffen.

Indessen drängte der Kuhbauer den Alten in den Kreis der Leute zurück, die mit ihren lehmigen Gesichtern der Abwechselung schon nicht mehr zu trauen wagten.

Hört nicht auf den fiebernden Alten, sagte er, er hat vor Zeiten schon von dem goldenen Korn gesponnen, in dem das Blut der Kinder verschwunden! Hört nicht auf den Narr, der in unseren Tieren die Tiere gesehen, die unsere Bäuche doch schlitzten wollten. Hach! Er will uns nur mit seinen Gewirr den Teufel in den Kopf verpflanzen.

Als die Frau des Kuhbauern dies hörte, ging sie entschlossen in den Kreis und stieß ihrem Mann grob in den lehmbefleckten Wams, der seine rote Farbe längst verloren hatte.

Du hast kein Recht hier unter der Linde zu stehen und den Alten zu verspotten. Und wer weiß es denn, vielleicht sagt er das Wahre, du und ich, wir alle können es nicht wissen. Gab es nicht schon Zeiten in denen die Scharen der Bettler und Landsknechte durch das Land zogen, das vor ewigen Tagen noch reicher war als heute, als sie Feuer und Krankheit brachten und alles Glück zerstörten. Vielleicht müssen wir den Raben und Krähen folgen mit allem was wir mitnehmen können, die müssen doch wissen, wo ein Leben für uns ist.

Das Leben, das Leben! schrie nun der Werker und baute sich groß vor ihr auf und hätte sie wohl gestoßen mit seinen harten Armen, wenn sie nicht geknurrt hätte.

Kennst du nicht das Leben, das so wendig ist wie ein Schwein, das wir zum Messer führen wollen, wie das geschlagene Holz der starken Bäume, das oft nicht will wie ich. Das Leben! Das lag schon oft schön brav in meinen starken Händen und flugs war es wieder verschwunden, das hinterhältig versprechende, und lachte mich aus, trat mich noch in den feisten Arsch, der auch nicht gerade weiß, was Trüffel sind. So habe ich das Leben gehabt, und gesehen wie es auf langen Beinen davon zog, daß es in dein Maul nicht passt.

Er hatte gerade zu Ende gesprochen, da verstummte die Musik. Kaum bekamen sie die fragenden Mäuler auf als in der Ferne zum Tanz aufgespielt wurde. Drehleier, Horn und Flöte, Tamburin und Dulcimer sangen das Lied der Lust.

Ein Lied, in dem die Krumen der Äcker, die schweren Ernten der Felder und das grüne Licht der sommerlichen Birken zu leben schienen. Sie wogen in einer vibrierenden Melodie, in einem befreienden Rythmus, dem sich keiner entziehen konnte. So hatten sie es in ihrem Leben noch nicht aufspielen gehört und sie erinnerten sich an ihre ersten großen Feste, auf denen sie Lust und Freude schätzen gelernt hatten. Und beinahe wären sie auch zu ihren besten Kleidern gegangen, zu ihren Verstecken mit Wein und Most, den manche unter dicken Tüchern vor Monaten aus der großen Stadt heimgebracht hatten, gegen Käse und Speck getauscht, da man doch von einer baldigen Hochzeit sprach, bei der sich keiner lumpen lassen wollte. Aber nur die Kinder sprangen über den festen Lehm, der wie die Wände der Hütten in einem hellen Braun stand. Die anderen gaben sich nur einem leichten Pendeln hin und staunten über soviel Lust an einem Tag, den ihre Vorfahren doch allein für die Arbeit bestimmt hatten.

Und endlich kam der auf der Haut vibrierende Musik näher. Die Dörfler sahen einen Haufen Spielleute auf einem Wagen mit einem grauen Gaul davor den Weg ins Dorf einbiegen, begleitet von einem Raben, der ihnen den Weg wohl zeigte. Der Kreis löste sich auf als der Werker, die Kuhbäuerin und der Kuhbauer den Weg anführten und Jung und Alt ihnen folgten, im Gemüt freudige Erwartung oder heimliche Sorge. Der graue Wagen der Spielleute hielt und sieben Gestalten sprangen ab, mit schwarzen und weißen Rändern unter den Augen, durch Kutten oder graue Jacken, durch weite feste Schürzen und Röcke geschützt vor den Winden des Herbstes.

Wir bitten um etwas Brot und Wasser, sprach ein hagerer Mann in einer Kutte, die unten voll schweren Lehms. Er hatte eine Menge scharfer Falten um Bart und Augen und einen Mund, der zwischen Schmerz und Freude keine Form fand.

Wir haben ein Lied und eine Geschichte für euch, sagte er mit monotoner Stimme. Sie sind nur für euer Dorf bestimmt. Euer Dorf suche ich schon lange. Nun habe ich es mit meinen treuen Freunden hier gefunden.

Woher kommt ihr? sagte der Werker, der einen Schritt vor tat, um ihm seine Macht zu zeigen.

Aus den Wäldern und den Städten dieses Landes, das sich Melchior nennt, wie ich erfahren mußte.

Habt ihr das schwere Lied gespielt, das uns lockte? sagte die Kuhbäuerin und trat einen Schritt hervor, als wollte sie in seinen vergrabenen Augen eine Antwort zu finden.

Ja.

Was war das für ein Lied?

Wir stehen hier alle auf blutgetränkten Boden und mein Lied, das die Birken euch zugetragen haben, war das Klagen der Kinder, die mit Schwertern und Lanzen getötet wurden, weil sie Kinder der falschen Zeit seien. Darum ist in dem goldenen Korn, aus dem ihr das nährende Brot hier macht, das Blut der Kinder, die kein Grab gefunden haben, darum hört ihr manchmal ein leises Stöhnen beim Dreschen des Korns.

Was spinnst du da zurecht! rief einer.

Willst uns wohl die Narretei in unser gutes Haupt verpflanzen, rief ein anderer.

Ruhe, rief die Kuhbäuerin, die alles wissen wollte und neugierig noch einen Schritt hervortrat. Erzähle. Wer waren die Kinder, die kein Grab gefunden?

Kinder dieses Dorfes hier. Daß ihr euch noch nicht gewundert habt darüber! Es fehlt euch fast ein Alter! So gut haben die Alten vergessen. Sie haben das Morden geduldet.

Unsere Väter und Mütter?!

Ich lebte hier, als ich noch ein Kind war. Ich wäre auch erschlagen, erdolcht und dann verbrannt worden, wenn ich nicht bestimmt gewesen wäre, Euch alles zu erzählen. Ich habe mitgehört, wie sich die Väter und Mütter gegen uns verschworen und die Soldaten bestellt haben, damit sie die falsche Brut vernichten. Sie haben uns verraten. Und ich Kind wollte fliehen aus diesem Dorf, das in einem seltsam grauen Schnee lag und nie mehr helleren gesehen haben soll wie die Raben mir erzählten. Aber ich hatte nicht den Mut und nicht die Kraft bei mir, um fortzugehen. Wohin sollte ich gehen im Winter, wenn nur die Krähen in den Wäldern darauf warteten, an mein dünnes Fleisch zu zupfen! Ich war immer noch im Dorf, als die Soldaten kamen mit ihren rasselnden Rüstungen und scharfen Schwertern. Ich dachte, sie werden es nicht tun und versteckte mich in eine alte schneebedeckte Tonne, die an einer Pfütze lag. Und schneller als erwaretet hörte ich das Beißen der scharfen Hunde und das Schreien meiner Freunde, deren Herzen von heißen Schwertern und Lanzen durchbohrt wurden. Ich lag in der Tonne und hasste mich für meine Feigheit und mein Elend, lag dort in der wimmernden Luft und hörte später nur noch das Schreien der fliehenden Raben, die hier nicht mehr leben wollten und die mir erst sehr viel später den Weg in euer Dorf zeigten.

Der Alte hat die Wahrheit gesagt und keiner hat es verstanden, sagte die Kuhbäuerin und weinte.

Wir müssen unser Dorf verlassen, sagte der Kuhbauer.

Wohin, sagte der Werker. Welcher Teufel will uns hier die Schuld noch geben. Bringe deinen Vater um, dann geht es dir besser.

Willst du weiter dieses Brot noch essen, sagte die Kuhbäuerin und spuckte vor ihm aus.

Es schmeckt, es schmeckt, probier doch!

Aber welchen Weg sollen wir gehen, fragte die Werkerin dem alten Spielmann.

Keiner weiss es.

Die Spielleute bestiegen ihren schmalen Karren und spielten das Lied der klagenden Kinder, die keine Ruhe gefunden haben, und sie fuhren fort auf lehmigen Wegen, denen auch die Kühe und Vögel folgten, ohne auf die Dörfler zu warten.

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Das Auto...
... rollte langsam aus. Das Licht und der Motor waren schon
ausgeschaltet. Das einzige was leuchtete, war die Zigarette
in seinem Mund.
Und der Mond.
Und im Mondenschein lag vor ihm, noch feucht, die riesige Fabrikhalle. Es hatte geregnet. Er schaute sich um. Nichts.

Sie hatte die Taschenlampe gerade ausgeschaltet, als sie den Wagen hörte. Langsam waren ihre Blicke dem glänzenden Wagen gefolgt.

Er stieg aus. Die Taschenlampe in der Hand. Langsam den Mantel zuknöpfend, den Kragen hochklappend. Vorsichtig ließ er die Autotür zuschnappen. Die Kiesel knartschten unter seinen Sohlen. Er leuchtete auf die Tür.

Da kam sie von hinten auf ihn zugelaufen. Die Pistole schon in der Hand. Sie schrie.
Mit Angst in den Augen.
Sie schrie.
Sie drückte den Abzug. Ein-, zwei- ,-dreimal! Sie brauchte noch mindestens eine Kugel für sich. Sie wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob er auch wirklich tot war. Dann nahm sie die Pistole. Der Lauf, noch warm, verschwand in ihrem Mund. Sie hatte jetzt keine Hemmungen mehr abzudrücken.
Sie drückte ab. Nichts (außer einem Dröhnen). Sie wunderte sich. Das war unmöglich. Sie drückte nochmal ab. Keine Zeit mehr nachzusehen. Wieder nichts. Ein drittes mal. Wieder nichts. Sie nahm die Pistole langsam aus dem Mund. Setzte sich, ohne zu merken, wie feucht es noch war. Sah auf die Pistole. Schoß in die Luft. Mehr als zehnmal. Guckte sich wieder die Pistole an. Lehnte sich langsam zurück und lachte. Langsam, ruhig, betäubt, immer lauter.

Er stand auf. Ging zu ihr rüber und nahm sie glücklich in die Arme.

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Mittwoch, 3. Dezember 2003
Keine Nase, eine Nase
Der neue Morgen begann ziemlich übel für Homer. Als er in den kleinen, runden Badezimmerspiegel blickte, stellte er überraschend fest, dass seine Nase verschwunden war. Sie war weg, einfach weg. Ein lauter, keuchender Schrei des Entsetzens entfuhr ihm, als er erkannte, dass da etwas überhaupt nicht in Ordnung war. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Heftig rieb er sich die Augen, in der Hoffnung, dass er noch nicht ganz wach war. Dann kniff er sich ziemlich stark in den Handrücken, um aus diesem furchtbaren Alptraum aufzuwachen, doch außer einem kleinen stechenden Schmerz an der Hand stellte sich keine Änderung ein. Die Nase wollte nicht wieder auftauchen. Dort, wo sie vorher gewesen war, schien es jetzt eine geschlossene, glatte, mit Haut überzogene Fläche zu geben, auf der einige spärliche Haare wuchsen. Um wirklich ganz sicher zu gehen, setzte Homer seine Brille auf. Vielleicht spielte ihm ja nur seine leichte Kurzsichtigkeit einen kleinen optischen Streich. Die Brille rutschte sofort nach unten und hing nun wie eine Art Bart am Kinn. Es sah sehr albern aus. Noch einmal tastete Homer vergeblich nach der Stelle, wo sich gestern noch ein relativ respektabler Riechzinken befunden hatte, und hielt dann inne. Irgendwo in seinen Gehirnwindungen wurde der Befehl ausgelöst, bloß nicht in Panik zu geraten und die Situation stattdessen ruhig und rational anzugehen. Jetzt waren eindeutig Vernunft und Selbstbeherrschung gefragt. Wenn man das Problem ganz sachlich und gelassen betrachtete...
Nein, keine Chance! Nicht wenn einem plötzlich aus heiterem Himmel die Nase abhanden kam.
„Loooooona!“ kreischte Homer drauflos, stürmte wie von der Tarantel gestochen zurück ins Schlafzimmer und sprang zum Bett, in dem seine Freundin noch immer friedlich schlummerte.
Loona war hübsch anzusehen, vor allem wenn sie im Schlaf die Decke beiseite gestrampelt hatte und dadurch eine Menge nackter Haut entblößte, doch nach solchen Dingen stand Homer gerade nicht der Sinn. Reichlich unsanft versuchte er, die junge Frau wachzurütteln.

Der Traum war wirklich schön und Loona genoss ihn in vollen Zügen. Sie wusste, dass es ein Traum war, aber das machte nichts. Im Gegenteil, die Grenzen der Realität hinter sich zu lassen war einfach wundervoll. Nichts, was man tat, hatte wirklich Konsequenzen, alles war erlaubt, alles war möglich.
Eben waren sie an den Sternen vorbei durch die Nacht geflogen, Hand in Hand, genau wie einst Superman und Louis Lane. Dabei war Homer gar nicht immer Homer gewesen, aber das empfand Loona nicht unbedingt als besonders schlimm. Was machte es schon, wenn ihr Freund zwischendurch auch mal wie Brad Pitt oder Pierce Brosnan aussah? Na gut, einmal hatte er sich in ihren Ex verwandelt, das gab ihr schon etwas zu denken, aber eigentlich nicht sehr, denn schließlich war es ja nur ein Traum.
Irgendwie befanden sie sich jetzt in einem Swimming Pool, ohne dass es eine plausible Erklärung dafür gab, wie sie dorthin gekommen waren. Homer, bekleidet nur mit einer sehr knappen Badehose und schon wieder um einiges muskulöser als in der Realität, saß am Beckenrand und ließ seine Beine ins Wasser baumeln. Loona schwamm auf ihn zu und schnappte sich vorwitzig seine Füße.
„Komm zu mir ins Wasser, Liebling“, rief sie fröhlich und verlieh ihrer Aufforderung Nachdruck, indem sie einmal kräftig zog. Da konnte Homer einfach gar nicht anders, als ihrem Wunsch mit einem lauten Platsch nachzukommen. Und während er noch versuchte, mit rudernden Armen wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen, fiel Loona auch schon über ihn her.
„Ich bin ein gefährlicher Piranha, und nun werde ich dich verspeisen!“
Leidenschaftlich aber doch noch relativ zärtlich, wie sie fand, knabberte sie an Homer herum, doch der war offenbar empfindlicher, als sie gedacht hatte.
„Oh Gott, Loona, meine Nase“, schrie er plötzlich los, „sieh nur, was mit meiner Nase passiert ist!“

Es dauerte einen Moment, bis Loona erkannte, dass Homers Geschrei der Realität entstammte und nichts mit ihrem Traum zu tun hatte. Als sie die Augen aufschlug und direkt in Homers nasenloses Gesicht schaute, war daher ihr erster Gedanke:
Oh nein, was habe ich nur getan. So fest habe ich doch nun wirklich nicht zugebissen.
Dann jedoch wurde ihr bewusst, dass keinerlei Zusammenhang zwischen dem Geträumten und Homers neuem, sehr merkwürdigem Aussehen bestehen konnte. Selbst in ihrem noch schlaftrunkenen Zustand bekam sie mit, dass es sich hier nicht um eine frische, offene Bisswunde handelte.
Sonst hätte ja auch überall Blut sein müssen, dachte sie.
Aber was ist dann mit ihm passiert?
Langsam wurde sie wacher und ihr Verstand kam allmählich auf Touren.
Wie kann denn eine Nase auf diese Weise verschwinden?
Zwar fand sie auf diese Frage keine Antwort, doch wurde ihr klar, dass hier eine ungeheuerliche Groteske im Anmarsch war. Und plötzlich war er da, der Lachreiz. Loona schaute in Homers Gesicht, wo die Brille immer noch an seinem Kinn hing. Oh Mann, das sah aber auch aus! Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Homer nicht nur kurzsichtig war und keine Kontaktlinsen vertrug, sondern auch noch als Handelsvertreter eines Pharmakonzerns arbeitete, der als Hauptprodukt ein als besonders wirksam aber dennoch sehr verträglich geltendes Nasenspray vertrieb. Sie malte sich die Szene von Homers nächstem Verkaufsgespräch aus, und ihre Mundwinkel begannen unwillkürlich zu zucken.
Nebenwirkungen? Wie kommen Sie darauf, dass Nas-O-Frei Nebenwirkungen haben könnte?
Das war einfach zuviel! Sie wusste, dass es weder angebracht noch besonders nett war, weder sensibel noch mitfühlend, aber sie konnte nicht an sich halten. Unmöglich. Loona prustete los. Für einen kurzen Augenblick versuchte sie noch sich zurückzuhalten, aber es ging nicht. Ein lautes, schallendes Lachen entfuhr ihr und traf Homer mitten ins Herz. Als sie seinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, rollte sie sich auf dem Bett herum und vergrub ihren Kopf im Kissen. Vielleicht war das für ihn nicht ganz so schlimm, hoffte sie, denn es bestand nicht der Hauch einer Chance, dass sie in nächster Zeit mit dem Lachen aufhören würde.
Was gibt es heute zum Essen? Nasi Goreng! Aber ohne Knoblauch, den kannst du ja nicht riechen. Oh nein, ich bin ja so etwas von gemein. Du hast ein Problem Homer, denn von nun an werden dir alle anderen immer eine Nasenlänge voraus sein. Bitte nicht mehr, das ist zu fies. Nun sei doch nicht so naseweis und hör endlich auf, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen. Schluss jetzt, ich kann nicht mehr. Sieh es positiv Homer, wenigstens kannst du jetzt nicht mehr ständig auf die Nase fallen.
Loona schlug vor Lachen mit den Fäusten auf das Bett und strampelte wild mit Beinen. Sie drehte sich wieder auf den Rücken und Tränen schossen ihr in die Augen, als ihr Blick erneut auf den völlig entgeisterten Homer fiel. Sie musste sich jetzt den Bauch halten, sonst wären die Lachkrämpfe nicht mehr zu ertragen gewesen.
„Bitte Homer“, gluckste sie, „geh nach draußen und warte, bis ich mich eingekriegt habe.“
Dann wurde sie von einem weiteren Anfall geschüttelt und Homer verließ ziemlich eingeschnappt das Zimmer.

In den nächsten Tagen und Wochen erlebte Homer wohl die aufregendste Zeit seines ansonsten eher langweiligen Lebens. Er erlangte als der Nasenlose eine nicht geringe Berühmtheit, die Geschichte seines Schicksals ging durch alle Medien. Er wurde in eine Talkshow nach der anderen eingeladen, Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen und aus aller Herren Länder fragten an, ob sie ihn untersuchen durften. Eine große Vielfalt sehr unterschiedlicher Theorien über das Verschwinden von Homers Nase wurde diskutiert, aber keine davon mutete wirklich besonders befriedigend an. Von einer spontanen Rückbildung durch noch zu klärende mutagene Einflüsse über psychokinetische, durch das Unterbewusstsein ausgelöste und gesteuerte Metamorphosen bis zur göttlichen Strafe war alles dabei. Einmal wurde sogar behauptet, Homer sei ein raffinierter Schwindler, der sich seine Nase absichtlich hatte amputieren lassen, nur um in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu erregen, aber mit einem sehr ausführlichen medizinischen Gutachten konnte dieser Verdacht vor Gericht erfolgreich abgeschmettert und in eine recht lukrative Verleumdungsklage umgewandelt werden. Seinen Job als Handelsvertreter für Medikamente war Larry verständlicherweise los, doch durfte er in einigen Werbespots für Nas-O-Frei mitspielen, ganz nach dem Motto: Das könnte Ihnen passieren, wenn Sie ein herkömmliches Produkt verwenden.
Irgendwann jedoch wurde Homer das alles zu bunt. Er konnte den Rummel um seine Person nicht länger ertragen, und so ließ er sich ein kostspieliges, künstliches Nasenimplantat anfertigen, das durch den Einsatz neuester Entwicklungen aus der synthetischen Rezeptorforschung sogar die teilweise Wiederherstellung seines Geruchssinns ermöglichte. Über diese Operation wurde noch eine zweiteilige TV-Dokumentation gedreht, doch es dauerte nun nicht mehr lange, da gerieten Homer und seine verschwundene Nase wieder in Vergessenheit. Ab und an meldete sich noch der eine oder andere Metaphysiker bei ihm, aber damit hatte es sich dann auch.

Loona trennte sich sehr bald von Homer. Sie hatte ihn schon immer ein wenig für einen Looser gehalten, der dieses Manko jedoch durch erstaunlich gute Leistungen im Bett wieder wett gemacht hatte. Doch nun war er auch noch ein echter Freak geworden, dessen zukünftiges Innenleben mit Sicherheit zum kompliziertesten gehörte, das sie sich vorstellen konnte. Halbwegs normal konnte eine Beziehung mit Homer ihrer Meinung nach von jetzt an wohl kaum noch verlaufen, und auf all die zu erwartenden Psychoprobleme hatte sie einfach keine Lust. Sie heiratete später den Chirurgen, der Homers neue Nase angesetzt hatte.

Sehr viel später, in ferner Zukunft, aber bei einer Koordinate im Raum-Zeit-Kontinuum, die erstaunlich parallel zu jenem Punkt lag, an dem Homers Nase verschwunden war, verließ LS-1721 den Diagnosebereich seiner Medi-Kugel. Trotz einer Analyse, die länger als drei Stunden gedauert hatte, wusste er noch immer nicht, wie es zu diesem Schicksalsschlag gekommen war, geschweige denn, wie er damit umgehen sollte. Es gab keine logische Erklärung dafür, wieso dieses scheußliche Etwas, das nur aus alten Mythen und Sagen bekannt war, jetzt plötzlich mitten in seinem Gesicht prangte. Das widerliche Empfinden, das er dadurch wahrnahm, musste das sein, was die Altertumsforscher Gestank nannten. Kein Wunder, dass sich dieses Körper und Geist quälende Ding, das zudem auch noch abgrundtief hässlich aussah, im Laufe der Evolution zurückgebildet hatte. Verdammt, wo kam bloß diese Nase her?

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Am Fluss
Ich kann nicht einschlafen, obwohl es draussen, vor dem Zelt, inzwischen still geworden ist. Neben mir liegt André, er schläft. Nur sein dunkler Haarschopf schaut zwischen Kissen und Decken heraus, abgesehen von unregelmässigen Schnarchlauten sind seine Atemzüge tief und gleichmässig. Ich seufze und winde mich aus meinem Schlafsack.

Ich bleibe einen Moment zwischen den Zelten stehen und lausche. Aus fast jedem Zelt dringen Schlafgeräusche, jemand nuschelt unverständlich vor sich her, jemand anderes hustet, dazwischen lautes und leises Schnarchen und Grunzen. Martin, das Geburtstagskind, war als erster verschwunden, kein Wunder, immerhin wollte er mit jedem einzelnen anstossen. Ich grinse vor mich hin und schlendere über die Wiese hinab zum Flussufer. Die Feuerstelle glimmt noch schwach. Ich sammle ein paar Zweige auf und stochere in der Glut, lege Holzscheite nach. Helle Flammen züngeln empor, werfen ihr Licht in die Nacht. Nah am Flussufer hockt eine in eine Decke eingewickelte Gestalt. Als ich auf sie zugehe dreht sie sich um. „Kannst auch nicht schlafen, hmm?“, stellt Felix grimassenschneidend fest. „Nein, absolut nicht.“, sage ich und setze mich neben ihn. Wir schauen auf das träge Wasser hinab, welches, bis auf ein paar klitzekleine Lichtreflexe unter dem blassen Mondlicht, unsichtbar dahinfliesst.

Nebelschwaden treiben vom anderen Flussufer herüber, ich fröstele. Felix hebt einladend seine Decke. „Komm näher, reicht für uns beide.“, sagt er. Ich rutsche dicht an ihn heran, schmiege mich an ihn und er schlingt die wohlig warme Decke um uns beide. „Besser?“
„Viel besser.“, sage ich.
Wir sitzen einfach da, schweigend. Unter der Decke ist es angenehm warm. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter und seufze. „Was ist? Müde?“, fragt Felix leise. „Nein, kein bisschen, es ist nur gerade so schön friedlich hier.“, antworte ich. „Ja, das ist es.“, sagt er. Sein Arm schliesst sich fester um meine Schulter, er dreht den Kopf, der schwache Lichtschein des Feuers spiegelt sich in seinen Augen. Unsere Lippen berühren sich, seine Zunge kitzelt meine Mundwinkel. Ich öffne leicht den Mund und geniesse das Kribbeln im Bauch, als seine Zunge meine berührt. Erst sachte, dann werden seine Liebkosungen in meiner Mundhöhle immer forscher. Mit einer Hand zieht er mich am Nacken näher an sich heran, mit der anderen streichelt er über meiner Jacke meine Brüste. Ich will nicht nachdenken, konzentriere mich nur auf dieses wahnsinnige Kribbeln in meinen Brustwarzen und meinem Schoss. Und ich will mehr, mehr, mehr. Ich streife unter der Decke meine Jacke ab, knöpfe mein Hemd auf. Er öffnet meinen Büstenhalter, sein Kopf verschwindet unter der Decke, seine Lippen wandern über meine Brüste. Ich keuche, winde mich, lasse mich rückwärts ins Gras sinken. Mit zittrigen Händen schäle ich mich aus Jeans und Slip, helfe seinen ebenfalls zittrigen Händen dabei, seine Hosen abzustreifen. Er gleitet zwischen meine Schenkel. „Bist du sicher?“, vergewissert er sich und dringt erst in mich ein, als ich bejahe. Wir ziehen die Decke über uns, schliessen den Nachthimmel und das flackernde Feuer aus. Wir bewegen uns langsam und vorsichtig bis wir einen gemeinsamen Rhythmus gefunden haben, keuchend, seufzend, es gibt kein zurück, jetzt nicht mehr. Wir steigern das Tempo unseres Rausches bis das süsse Pochen der Erlösung unsere Körper durchflutet.
„Ich hoffe, ich kann dir morgen noch ins Gesicht sehen.“, sagt er zum Abschied, als ich zurück in mein Zelt krieche. „Das hoffe ich auch.“, sage ich.

Als die Zelte abgebaut und verstaut sind und alle in ihren Autos sitzen um nach Hause zu fahren, wo Kaffee, Dusche und Fernseher warten, schauen wir uns einen Moment lang in die Augen, er zwinkert und ich lächle leise.

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Montag, 1. Dezember 2003
Blaulicht
Ob es das kurze, aber intensive Blitzlicht oder das irritierende Hupen war, wurde ihrem Bewusstsein nicht eindeutig klar, aber was es auch war, es drang zu ihr durch und verdrängte den gläsernen Ausdruck aus ihren Augen. In Sekundenbruchteilen wurde ihr klar, dass sie ein rote Ampel überfahren hatte. Es dauerte trotzdem einen Moment bis sie begriff, dass sie sich stadtauswärts bewegte und wie sie hier hergekommen war, konnte sie nicht nachvollziehen. Ihre Finger schlossen sich fester um das Lenkrad. Sie blinzelte heftig und Tränen lösten sich aus ihren Wimpern, glitten ihre Wangen hinab, hingen einen Moment an ihrer Kinnlade um dann unbemerkt an ihrem Hals zu versickern. Als der Radiosprecher das Nachtprogramm für Nachrichten und Wetterbericht unterbrach, hatte sie die Orientierung wiedererlangt. Sie setzte den Blinker und wechselte auf die Spur, die nach einigen Kilometern in eine wenig befahrene Landstrasse übergehen würde.

Mit der Klarheit stellte sich auch der Schmerz ein. In ihrem Kopf spulte sich wieder und wieder die Erinnerung an die Worte ab, die vor wenigen Stunden ihre Welt zusammenbrechen liessen. In ihrem Kopf raste ein aus Kontrolle geratenes Karussell mit schwindelerregender Geschwindigkeit, in ihrer Brust befand sich glühende Lava, in ihrem Bauch hielt eine geballte Faust ihre Organe im Klammergriff. „Nein!“, war der einzige Gedanke, den sie fassen konnte. „Nein, nein, nein!“, wimmerte sie lautlos vor sich hin, als könne sie mit diesen Worten, einer Beschwörung gleich, die Ereignisse der letzten Tage ungeschehen machen.

Die Lichter draussen vor der Windschutzscheibe wurden schwächer, der Verkehr um sie herum liess nach, die Häuser wurden dunkler. Sie liess die Stadt hinter sich, noch eine letzte Ampel, danach ein lichtloser Wohnblock, dann die Landstrasse. Sie kannte die Strecke in- und auswendig, kannte jede Biegung, jedes Schlagloch, jeden Baum. Und dann überkam sie Ruhe. Die Gedankenwirbel hielten abrupt an und machten Platz für einen neuen, einen verlockenden Gedanken. Sie richtete sich auf, starrte gebannt auf die Schemen der Bäume, welche die Strasse in ungleichmässigen Abständen säumten. „Es ist ganz einfach“, flüsterte sie, „ganz einfach.“ Mit dem Anflug eines Lächelns liess sie die verkrampften Schultern sinken. „Vorbei, vorbei, endlich alles vorbei. Kein Gestern, kein Heute, kein Morgen, vorbei!“, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie schaute auf das Armaturenbrett, überlegt kurz, trat das Gaspedal durch. Hinter der nächsten Biegung würde erst eine lange baumlose Strecke kommen und dann, ein kleines Stückchen abseits der Strasse, eine Linde, eine alte und wunderschöne Linde. Sie hatte die Linde vor Augen, sah ihr Grün vor sich, den Schatten, den der Baum im Sommer auf die Fahrbahn warf.

Als sie das Lenkrad leicht einschlug um der Biegung zu folgen, nahm eine fiebrige Erregung von ihr Besitz. „Nichts mehr denken, nichts mehr fühlen.“, murmelte sie und trat das Gaspedal noch ein wenig tiefer durch. Eine irrsinnige Freude überkam sie, ein unerträgliches Verlangen, ein Sehnen aus den tiefsten Tiefen ihres Innersten. Die Biegung ging in eine schnurgerade Strecke über, Gebüsch und Gestrüpp hinter sich lassend, und dann sah sie es. Erst ein schwacher blauer Schein in der Ferne, dann Autoscheinwerfer, ein Paar, zwei Paar, noch eines. Je mehr sie sich ihrem Ziel näherte, umso mehr Details nahm sie wahr. Ein Feuerwehrfahrzeug, ein Krankenwagen, ein Notarzt, Polizei, zwei Zivilfahrzeuge und über allem das irrsinnige Kreisen mehrerer Blaulichter. Mitten auf der Fahrbahn stand ein Polizist, winkte ihr zu, winkte sie in einem grossen Bogen um den Unfallort, an dem sich ein kleiner weisser Polo frontal in die Linde gebohrt hatte. Sie bremste ab, fuhr langsam, sehr langsam an Krankenwagen und Polizeifahrzeug vorbei, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Blechteile unter dem Baum und Tränen liefen ihr wie Sturzbäche übers Gesicht, während sie haltlos schluchzte.

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das leben überdenken
Ihm war, als schwebe er durch den Raum. Alles schien wie in Zeitlupe zu vergehen. Die zwei Kellner, die ihm entgegen kamen, bekamen davon natürlich nichts mit. Ihnen schenkte er einfach je zwei Zeigefingerzuckungen.
"Wer gibt mir das Recht, das zu tun?"
Seeker steuerte die Küche an. Das Geschrei der Gäste verhallte in seinem Kopf.
"Erlange ich durch meinen Beruf, durch meine Taten nicht einen unnatürlichen, unfair höheren Status meinen Mitmenschen gegenüber?"
Geradezu reflexartig schoss er den irritierten Sicherheitsmann in der Küchenecke nieder. Der Weg in den Keller müsste... ja, links runter sein.
"Ich existiere, mein Gegenüber nicht mehr. Wo geht es hin? Wandelt es sich in eine neue Existenz, oder verschmilzt es einfach mit dem Nichts? Es hat keinen Einfluss mehr auf das Geschehen dieser Welt.
Aber was rede ich da? Es. Immerhin spreche ich von einem lebendigen Menschen; ich darf ihn nicht zu einem Subjekt oder einem beliebigen Wesen herabstufen.
Leute werden um ihn trauern, sicher, aber sie werden ihr Leben weiterleben, ihn vergessen. Hat er dann überhaupt noch irgendeinen Einfluss? Ich meine, wie ist das? Man spürt einen Schmerz, dann wird alles schwarz - und dann nichts mehr? Für immer? Unvorstellbar!" Der hochstürmenden Wache trieb er mit einem beherzten Tritt - er hatte eine vorzügliche Ausbildung als Nahkämpfer genossen - das Nasenbein ins Gehirn. Blutend fiel der Wachmann den Weg zurück, den er gekommen war.
Seeker erreichte den Keller. Es war dunkel und nass. Spärlich beleuchteten einige amateurhaft angebrachte Lampen die düsteren Korridore. "Wie in einem gruseligen Horrorfilm.", dachte Seeker.


Er folgte dem langen Gang. Geschickt umging er kleine Wasserpfützen, abgelösten Putz und verrostete Nägel, um verräterische Geräusche zu vermeiden.
Um die Ecke stand ein weiterer, korrekt in einen Anzug gekleideter Mann - mit dem Rücken zu Seeker. Gemütlich rauchte er eine Zigarette - Camel, wenn Seeker richtig roch - und hatte vom bisherigen Ärger nichts mitbekommen. Er schien in Gedanken vertieft zu sein - sofern Seeker seine schlaffe Körperhaltung richtig deutete.
"Dieser hier zum Beispiel. Vielleicht hat er eine Familie. Frau, Kinder, Eltern. Wie viel Schmerz setze ich in die Welt, töte ich ihn? Ich meine, ich zerstöre mit einem Mord gleich das Leben ganzer Familien. Ich bin ein Unmensch!" Er schoss ihm in den Hinterkopf. Ohne ein Ton von sich zu geben, nur von dem lauten Pistolenknall begleitet, fiel er vornüber in eine kleine Wasserpfütze. Das letzte Geräusch dieser namenlosen Wache auf Erden war ein Wasserplatschen.


Seeker war kurz vor der Tür, die ihm sein Auftraggeber flüchtig beschrieben hatte.
"Solide Eichenkonstruktion, mit Metallstreben verstärkt. Hebt sich von den anderen Türen da unten ab. Dort halten sie immer ihre Sitzungen. Suchen sie ihren Kunden zu aller erst da." Die Stimme des bärtigen, in einen langen Regenmantel gekleideten Auftraggebers klang noch deutlich in Seekers Ohren.


Aufgebrachte Stimmen waren aus dem Raum zu hören. Seekers letzter Schuss hatte das Personal endlich gewarnt. "Trotz aller Tiefsinnigkeit, einen Schalldämpfer hätte ich Idiot trotzdem mitnehmen können!", war Seekers erster und letzter Gedanke, der sich direkt auf den Auftrag bezog.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Ein aufgebrachter Wächter feuerte mit einer Maschinenpistole auf Seeker. Er verfehlte.
"Diese Kugeln galten mir, verdammt! Hätten sie getroffen, ginge es mir jetzt nicht besser als den anderen, die ich bisher erledigt habe. Ich, Scheiße, ich - ich wäre jetzt tot!", schoss es ihm durch den Kopf und er seinem Gegner ins Gesicht.
Irgendwie hatte er sich das nie bewusst gemacht. Sicher, sein Verstand wusste, welches Risiko ein jeder Auftrag barg. Aber mit dem Herzen, mit dem Geiste, hatte er diese Gefahr immer verdrängt. Sterben? Ich?
Seeker begann ernsthaft, alles in Frage zu stellen, wofür er je gelebt hatte.

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